von K. Mader – März 2024
Teil 3: Arroganz oder Unkenntnis? – das Verhalten deutscher Politiker
Äußerungen oder Handlungen einiger Politiker können Anlass zur Sorge geben. Bürger, die hier hellhörig sind und den Fragen um Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit Aufmerksamkeit schenken, mussten in der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit hin und wieder mit Ernüchterung feststellen, dass hochrangige Politiker offenbar keinerlei Kenntnis hierüber besitzen oder mit Arroganz und Gleichgültigkeit oder mit Verachtung für das Volk und den Staat ihr Amt ausüben.
Kanzleramtsminister kritisert öffentlich Gerichte
Ein Beispiel ist der ehemalige Kanzleramtsminister Helge Braun, der 2020 öffentlich Gerichtsentscheidungen zu den damaligen ‚CORONA-Schutzmaßnahmen‘ kritisierte. Dies tat er in einer Weise, die als Missachtung der richterlichen Entscheidung und Eigenständigkeit der Justiz durch ein Regierungsmitglied verstanden werden musste, wenn nicht sogar Einflussnahme auf Gerichte durch öffentlichen, medialen Druck.
Darauf gingen in der Folge sogar einige deutsche Medien auf diese Angelegenheit ein. Vonseiten des Deutschen Richterbundes erfolgten Erklärungen, wenngleich nicht mit einhelliger Bewertung. Dies zeigt, wie eine solche Äußerung eines Mitgliedes der Exekutive durch öffentliche Polarisierung möglichenfalls Druck auf die Rechtsprechung ausüben kann, wenn Bewusstsein für Rechtstaatlichkeit bei Regierungsmitgliedern fehlt.
(https://www.spiegel.de/panorama/justiz/helge-braun-in-der-kritik-verfassungsrechtliche-problematik-vollkommen-verkannt-a-b76bb61b-e2a7-4927-a01a-4f7b015f1dd1; https://de.linkedin.com/pulse/wenn-die-regierung-gerichte-kritisiert-dr-florian-toncar)
Kanzlerinnen-Machtwort und Regierungskriese in Thüringen in 2020
Ein herausragender Fall von Missachtung horizontaler wie vertikaler Gewaltenteilung, rechtsstaatlicher Ordnung wie auch antidemokratischer Anmaßung war der Fall „Merkel-Thüringischer Landtag-Kemmerich“, von Anfang Februar 2020.
Am 5. Februar 2020 wählte der Landtag in Erfurt im dritten Wahlgang den FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten, nachdem zuvor in zwei Wahlgängen der Kandidat der LINKEN, Bodo Ramelow, mit dem Versuch seine Wiederwahl zu erreichen, scheiterte. Es war offenkundig, dass dieses Ergebnis für Kemmerichs Wahl mit Stimmen der AfD-Fraktion zustande kam, da diese nicht ihren eigenen Kandidaten wählte, sondern überraschend geschlossen für Kemmerich stimmte. Dies ist eine unübliche Taktik, aber formal nicht zu beanstanden; es besteht kein Zwang, einen bestimmten Kandidaten zu wählen – so weit, so gut.
Einen Tag später meldete sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel aus einem Auslandsbesuch zu Wort und erklärte in Südafrika, die Wahl sei „unverzeihlich“, es sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“. Die Wahl habe mit der Grundüberzeugung gebrochen, die für die CDU und sie persönlich gelte, nämlich, dass „keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD“ gewonnen werden sollten. Das Ergebnis müsse „rückgängig gemacht werden“. (Aus: Legal Tribune Online; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverfg-2bve420-angela-merkel-aeusserungen-thueringen-wahl-2020-verfassungswidrig/ , eingesehen am 1.8.2023)
Die Kanzlerin, die einerseits eine nach demokratischen Gepflogenheiten formal korrekt verlaufene Wahl zu achten hat, erklärte, diese Wahl müsse rückgängig gemacht werden, weil sie parteipolitischen sowie ihren eigenen Überzeugungen widerspräche.
Dazu kommt, dass sie als Bundeskanzlerin den im Grundgesetz als Staatsprinzip festgeschriebenen Föderalismus achten muss – die damit verbundene „vertikale Gewaltenteilung“ – und daher keinesfalls eine derartige Kommentierung oder gar Einmischung von ihrer Seite in Angelegenheiten eines Bundeslandes hinnehmbar sind. So soll es jedenfalls sein.
Doch damit nicht genug: Kanzlerin Merkel nutze anschließend mit entsprechenden Veröffentlichungen auf der Kanzler-Internetpräsenz wie auch auf anderen Regierungsseiten im Internet Ressourcen der Bundesregierung, um aus ihrem persönlichen Missfallen, parteipolitischen Motiven und Feindeligkeit gegenüber einer Oppositionspartei wie auch gegen die Wahl des Ministerpräsidenten Kemmerichs Stimmung zu schüren.
Sie missbrauchte damit, wie auch mit ihren Äußerungen zuvor, zum einen ihr Amt als Kanzlerin und die damit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um Parteiangelegenheiten beziehungsweise Parteistrategien öffentlich in einer harten Auseinandersetzung auszufechten. Damit verletzte sie auch in erheblichem Maße das Neutralitätsgebot.
Und weiter wurde in der Folge von verschiedenen Seiten darauf hingewirkt, dass der als Ministerpräsident frisch gewählte FDP-Politiker Kemmerich, dem im Landtag schon zu seiner Wahl gratuliert wurde, unter wachsendem Druck aus dem gesamten Bundesgebiet sein frisch errungenes Amt nach drei Tagen beschimpft und gedemütigt aufgab. (Wobei als Randnotiz daran erinnert werden soll, dass eine Abgeordnete der LINKEN Kemmerich einen Blumenstrauß, der wahrscheinlich ursprünglich für ihren Parteikollegen Ramelow vorgesehen war, zu Füßen warf. Dies wirft vor allem ein Licht auf das Demokratieverständnis und die mentale Verfassung in den Reihen der LINKEN.) Sogar Kemmersichs FDP-Parteichef, Christian Lindner, eilte nach Thüringen, um dahingehend auf ihn einzuwirken. Der lange Arm der Regierungschefin Merkel wirkte kraftvoll und streckte den Rechtsstaat und auch das Rechtsempfinden vieler Menschen zu Boden.
Kemmerich war ein Opfer der Anmaßung der Kanzlerin, die Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Demokratie nach ihrem Belieben beiseiteschob. Schlussendlich standen er und seine Familie wegen ernstzunehmenden Bedrohungen aus dem linksextremen Lager unter Polizeischutz. Rasch erregte die gesamte Angelegenheit infolge der Kanzlerinnenintervention sogar international Aufmerksamkeit. Es ist keineswegs so, dass Merkel auf Unmut, Besorgnis oder Missfallen im Ausland wegen des Wahlvorganges reagierte. Nein, die Auslandsreaktionen waren eine Folge der so geschürten Aufregung hierzulande. Darstellungen in deutschen Leitmedien wollten ein anders Bild von Ursache und Auswirkung erwecken.
Somit erreichte die Kanzlerin Merkel, dass ein FDP-Politiker als Regierungschef in einem Bundesland zurücktrat, Thüringen damit auch für einen beträchtlichen Zeitraum von etwa sechs Wochen nicht im Bundesrat vertreten war und eine Regierungskrise in Thüringen folgte. Damit hat sie weniger der Alternative für Deutschland (AfD), sondern auch der Freien Demokratischen Partei (FDP) wie auch der eigenen Partei (CDU) geschadet. Vor allem griff Merkel den Rechtsstaat an.
Merkel erklärte nach der Wahl: „Zumindest gilt für die CDU, dass die CDU sich nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf. Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.“
Der gesamte Vorgang war nicht nur ein schlechter Tag für die Demokratie; das, was Angela Merkel hiermit anrichtete, war schlecht für die Demokratie und verheerend für den Rechtsstaat insgesamt. Es war schlecht in einer gänzlich anderen Weise, als die Bundeskanzlerin dies meinte.
Infolge einer so entstandenen Regierungskrise war nun in Thüringen beinahe eine Neuwahl vonnöten. Die Reaktionen Kramp-Karrenbauers und Söders sowie die Empfehlung des CDU-Präsidiums für Neuwahlen in Thüringen nannte Merkel „insgesamt sehr wichtig“ für die große Koalition. (https://www.tagesspiegel.de/politik/das-ergebnis-muss-ruckgangig-gemacht-werden-4143196.html, eingesehen am 1.8.2023)
Dies wurde allerdings in Thüringen durch zahlreiche Einigungsgespräche, die zwischen den Landtagsfraktionen, unter Ausschluss der AfD-Fraktion, geführt wurden und die vereinbarte Wahl des vorherigen LINKEN-Ministerpräsidenten Ramelow abgewendet. Alles zusammen waren dies Vorgänge eines Rechtsstaates und einer funktionsfähigen Demokratie unwürdig.
Noch nicht erwähnt wurde bis jetzt die Frage der Benachteiligung der ‚Alternative für Deutschland‘ und dass die AfD in der Folge beim Bundesverfassungsgericht in einem Organstreitverfahren klären ließ, ob eine Benachteiligung im Wettbewerb der Parteien vorläge. Merkel habe demzufolge in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt. „Der damit verbundene Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG (Grundgesetz) sei weder durch den Auftrag des Bundeskanzlers zur Wahrung der Stabilität der Bundesregierung sowie des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft gerechtfertigt, noch handele es sich um eine zulässige Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Sie habe außerdem rechtswidrig staatliche Ressourcen eingesetzt, indem die Äußerung auf den Webseiten der Kanzlerin und der Bundesregierung dokumentiert wurden“. (Deutsch: Legal Tribune Online, Merkels Äußerungen zur Thüringen-Wahl 2020 verfassungswidrig) Das BVerG hat die Einwände der AfD in den beiden Punkten bestätigt und das Verhalten der Kanzlerin als verfassungswidrig eingestuft. Für Merkel, die zu dieser Zeit nicht mehr Kanzlerin war, folgte eine Rüge, mehr nicht.
Erwähnt werden sollte hierbei noch, dass dieses Urteil des Zweiten Senats des BVerG nicht einstimmig getroffen wurde, sondern mit fünf zu drei Stimmen zustande kam. Die Verfassungsrichterin Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein gab ein Sondervotum ab: Wallrabenstein vertritt die Auffassung, „die Äußerung zu politischen Fragen solle allgemein keiner Neutralitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen,“ Regierungshandeln solle auch in Erwartung der Bürger gar nicht neutral sein. Regierungsarbeit sei in einer Demokratie stets politisch und in einer Parteiendemokratie eben parteipolitisch geprägt. „Eine neutrale, etwa Experten-Regierung“ sei „nicht die Erwartung des Grundgesetzes, sondern im Gegenteil Ausdruck eines Krisenphänomens.“ Ja, sie stellt die These auf, eine Neutralitätserwartung sei sogar schädlich, was sie darauf in einem sehr eigenen Logiksystem begründet. Allerdings kommt dieser Verfassungsrichterin offenbar an keiner Stelle in den Sinn, dass es für die „Rückbindung des Handelns von Regierungsvertretern an Parteien“, wie sie es nennt, eine Grenze geben muss.
Diese Grenze setzt allerdings dort ein, wo schwerwiegende Eingriffe in den Wettbewerb der Parteien festzustellen ist, die eine Behinderung und Verunglimpfung von Oppositionsparteien darstellen oder rechtsstaatliche Grundsätze betroffen sind. (Das Bestreben, eine Annullierung einer ordentlich zustandegekommenen Wahl zu betreiben, außen vorgelassen. Dies wurde hier vom BVerfG nicht behandelt.) Von derartigen Erwägungen sind die Gedanken der BVerfG-Richterin Wallrabenstein anscheinend völlig befreit. „Die Entscheidungen des BVerfG zu Äußerungsverboten von Regierungsmitgliedern schaden nach Ansicht von Wallrabenstein der demokratischen Willensbildung und ihrer Realisierung im parlamentarischen Regierungssystem. Aber: Wie würde die Bundesverfassungsrichterin Wallrabenstein sich wohl äußern, wenn die verabscheute Opposition in Form der Partei ‚Alternative für Deutschland‘ führende Regierungsverantwortung trüge? – Das wäre spannend in Erfahrung zu bringen – sähe sie in diesem Falle auch eine Neutralitätserwartung als schädlich an?
Offenbar konnte Wallrabenstein zwei weitere Richterkollegen überzeugen, die ständige Rechtsprechung des Gerichts ändern zu wollen. Doch es fehlte eine weitere Stimme: Bei einem Patt wären die Anträge der AfD abgewiesen worden.“ (https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverfg-2bve420-angela-merkel-aeusserungen-thueringen-wahl-2020-verfassungswidrig/; https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-2bve420-2bve520-aeusserungsbefugnis-bundeskanzlerin-merkel-afd-thueringen-wahl/)
Die Argumentation der Richterin Wallrabenstein in Gänze muss Besorgnis auslösen, dies beileibe nicht alleine bei Mitgliedern der ‚Alternative für Deutschland‘, sondern bei allen Deutschen. (In einem anderen Fall bezüglich EZB-Anleihenaufkäufe wurde Wallrabenstein im Januar 2021 wegen eines Interviews für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung für befangen erklärt. – Bundesverfassungsgericht – Entscheidungen – Erfolgreiches Ablehnungsgesuch gegen eine Richterin des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren über den Erlass einer Vollstreckungsanordnung im „PSPP-Verfahren“; EZB-Verfahren: Richterin Wallrabenstein für befangen erklärt (faz.net))
Wallrabenstein wurde im Mai 2020 auf Vorschlag der Partei Die Grünen in das BVerfG gewählt und im Juni 2020 vom Bundespräsidenten ernannt. (https://taz.de/Neue-Richterin-am-Verfassungsgericht/!5682377/)
Die Geschehnisse in Thüringen von 2020 wie auch die Tatsache, dass für Angela Merkel ihr Handeln keinerlei spürbare Konsequenzen nach sich zieht und auch die Art, wie die Medienlandschaft im Wesentlichen in Deutschland darauf reagierte, zeigen das Bild eines weitgehend dysfunktionalen Rechtsstaates. Hieran ändert auch das Urteil des BVerG nichts nennenswert. Konsequenzen folgen bislang für keine der beteiligten Personen oder Parteien.
Im April 2023 bekommt Merkel die höchste Ehrenauszeichnung der BRD, das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik in besonderer Ausführung, verliehen. Diese Auszeichnung erhielten vor ihr nur zwei weitere Bundesbürger, beide ehemalige Bundeskanzler der CDU mit langer vorangegangener Amtszeit: Konrad Adenauer und Helmut Kohl. (Deutsche Welle: Angela Merkel erhält höchsten deutschen Orden; William Glucroft, 17.04.2023; eingesehen am 2.8.23) Die Auszeichnung bleibt sozusagen in der Familie…
Bei den hier geschilderten Beispielen handelt es sich um nur zwei aus der Bundesrepublik Deutschland.
Wählerernüchterung und „Politikverdrossenheit“
Und sowohl im Medienbetrieb wie auch aus dem Politikbereich wundert man sich vorgeblich darüber, dass in Thüringen – nicht nur dort – eine recht junge Oppositionspartei (die Alternative für Deutschland, AfD) bei Umfragen und Wahlen an Stärke gewinnt, einige andere Parteien, auch die CDU, an Zustimmung verlieren. Oder es wird demonstrativ darüber gerätselt, weshalb die Zahl der Nicht-Wähler bei vielen Urnengängen hoch ist. Nicht etwa Ablehnung der Demokratie, „Demokratieverdrossenheit“ oder „Demokratiefeindlichkeit“ als solches sind Gründe hierfür oder andere irreführende Darstellungen, wie es wiederholt in dürftigen Erklärungsversuchen vonseiten der führenden Politiker oder Medien hervorgebracht wird.
Es tragen mit Sicherheit sowohl Protesthaltung wie auch Resignation in erheblichem Maße zu bestimmtem Wählerverhalten bei. Wähler nutzen in einer repräsentativen Demokratie die naheliegenden (und seltenen) Möglichkeiten, um gegen Zustände ein Zeichen zu setzen. Ein Politikbetrieb, der selbst wenig Grenzen oder Regeln anerkennt, sich über den Rechtsstaat und das Rechtsempfinden hinwegsetzt, trifft zunehmend auf Ablehnung. Dies kann unter Umständen durch eine Protestwahl zum Ausdruck kommen.
In Teilen der deutschen Wählerschaft entwickelt sich Misstrauen gegenüber Parteien und der Demokratie. Das darf vor dem Hintergrund einiger Vorgänge und Entwicklungen nicht verwundern, nehmen viele Bürger eine deformierte Demokratie und Verflüchtigung des Rechtsstaates wahr, wenngleich die meisten von ihnen das nicht immer vollständig zu analysieren oder theoretisch zu erfassen vermögen. Zusätzliche Wählerbeschimpfung für „falsche“ Wahlentscheidungen oder Verunglimpfung von Bürgern, die gegen als Missstände empfundene Zustände demonstrieren, vervollständigt das ungünstige Bild in Deutschland.
Die inzwischen übliche unsägliche abfällige Weise, wie mit der Meinungsbildung und Stimmung der Deutschen in den „neuen Bundesländern“ (ehemalige DDR) umgegangen wird, sogar von „Ostbeauftragten“, wird einer Ursachenanalyse nicht im Geringsten gerecht, im Gegenteil. Man sollte vorrangig frei von ideologischen Anmaßungen darüber nachdenken, welches Bild der politische Betrieb der BRD bei den betreffenden Leuten abgibt, welcher Eindruck damit erzeugt wird.
In den vergangenen dreißig Jahren ist aus vielfältigen Gründen bei der Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger, nach der Angliederung der DDR an die BRD, eine wachsende Enttäuschung entstanden, angefangen mit der Abwicklungs- und Privatisierungspraxis durch die Treuhandanstalt. Redet man mit den Menschen, erkennt man diese Ernüchterung und Gründe dafür rasch; viele fragen sich, „Wofür sind wir damals auf die Straße gegangen, haben demonstriert für Freiheit – dafür…?!“
Und diese Enttäuschung hat beileibe nicht nur mit materiellen Folgen wegen Arbeitsplatzverlust, niedriger Rente, steigenden Kosten oder einem allgemeinen „Abgehängt-Sein“ zu tun. Dies zeigt lediglich, dass diejenigen, die solche Erklärungsmuster wiederholt hervorkramen, nicht bereit sind, offen zu analysieren und sich unfähig zeigen zur Erkenntnis.
Parteien und Personen, auch Journalisten und Fachakademiker, die Vorgänge wie in Thüringen 2020 anstoßen, befeuern, rechtfertigen, sich daran beteiligen oder wegducken, ohne sich der Tragweite oder gar der eigenen antidemokratische Geisteshaltung und Missachtung des Rechtsstaates bewusst zu sein, erzeugen beim Bürger kein Vertrauen; sie verspielen es.
Ähnliches gilt für Medien, die im Fall „Merkel-Thüringischer-Landtag-Kemmerich“ vorrangig darauf Bezug nahmen, ob und inwieweit der Umgang mit der AfD angemessen oder gerechtfertigt oder das fragwürdige taktische Wahlverhalten der AfD-Fraktion im Thüringischen Landtag selbst verwerflich war. Das kann man beiläufig sicherlich erörtern; dies sind jedoch nicht die entscheidenden Fragen, denen man im Zusammenhang mit der gesamten Causa nachgehen muss. Ausnahmen von Seiten der Leitmedien gab es wenige. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) versuchte in einem Beitrag zumindest darzustellen, dass hierzu kontroverse Auffassungen bestehen können.
(https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2020/Thueringen-Was-heisst-hier-Demokratie,thueringen168.html)
Und man bedenke: Was wäre hierzulande wohl an Reaktionen aus Medienanstalten, Ministerien Parteizentralen oder von „Experten“ zu vernehmen gewesen, wenn ein vergleichbarer Vorgang, wie hier mit der Thüringen-Wahl, in einem anderen Land festgestellt worden wäre, vielleicht in Ungarn oder Russland? Wie schnell hätte sich da die Empörungsspirale in Deutschland gedreht? Aber bei uns ist das in Ordnung …
Diese zwei Beispiele von Helge Braun und der „CAUSA Thüringen“ könnte man durch zahlreiche weitere ergänzen. Auch könnte eine wissenschaftliche Untersuchung darüber, ob das Bundesverfassungsgericht immer neutral oder in einigen Fällen eher parteipolitisch oder ideologisch geprägt arbeitet, sicherlich Ernüchterndes zutage fördern.
Schlussbetrachtung
Eine Vielzahl von Bürgern sieht die Demokratie zunehmend als mangelhafte oder gar schlechte und abzulehnende Staats- oder Regierungsform an, so zumindest ist es hin und wieder aus Umfragen oder Mediendarstellungen zu erfahren. Dies rührt vor allem daher, dass wir es hier mit einer „gelenkten“, deformierten Demokratie unter voranschreitender Auflösung des Rechtsstaates zu tun haben. Viele Leute nehmen das wahr, ohne es immer durchgehend zu analysieren und theoretisch zureichend zu durchschauen, wie oben schon gesagt.
Daher folgt häufig grundsätzliche Ablehnung, welche als extremistische Haltung, Radikalität oder sogar Ablehnung des Staates gedeutet wird. Mit solchen Kurzschlussurteilen tut man sehr vielen Bürgern Unrecht und hintertreibt jegliche Möglichkeit zur Ursachenforschung. Was viele Bürger hier tatsächlich ablehnen, ist nicht die Demokratie als solches oder gar die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie man es jeder Art von Opposition voreilig unterstellt. Bürger lehnen eine entstellte Demokratie ab, die nicht das hält, was sie verspricht und nicht das ist, was sie vorgibt zu sein.
Wähler werden zu Statisten in einem festgefügten System. Der Souverän aus dem Grundgesetz sieht sich zunehmend als lästiges Beiwerk oder Störfaktor degradiert. Eine steigenden Anzahl an Bürgern erkennt dies und weiß, dass vieles grundsätzlich falsch läuft. Die Bürger im Allgemeinen verfügen derzeit über keine angemessene oder wirksame Möglichkeit, nötige Änderungen zu veranlassen oder herbeizuführen.
Zunächst einmal ist es vonnöten, dass eine Vielzahl von Bürgern sich mit der Thematik vertraut macht und ein Bewusstsein für die Lage entwickeln. Daraus können womöglich wirksame Initiativen entstehen. Eine besondere Rolle käme hierfür auch den Leitmedien zu, wobei man anmerken muss, dass in den vergangenen Jahren kein Anzeichen dafür zu vernehmen ist, dass diese gewillt sind, sich den Fragen zur Rechtsstaatlichkeit oder anderen heiklen Fragen eingehend und kritisch zu befassen, eher im Gegenteil. Sie übernehmen die Aufgabe zu verschleiern oder falsche Interpretationen zu liefern und sind daher eher ein wesentlicher Teil des Problems.
Wie könnten Verbesserung in Sachen Gewaltenteilung erreicht werden? – denkbare Schritte in die richtige Richtung
Es drängt sich die Frage auf, ob oder in wieweit sich zu dem Zustand der Gewaltenteilung und der Schieflage rechtsstaatlicher Ordnung Maßnahmen erdenken lassen, die eine Gewaltenteilung aus der Welt der Theorie, der Annahme und der Behauptungen in die Wirklichkeit überführen lassen. Es sind Änderungen denkbar, die für erste Schritte als nicht allzu kompliziert und weitreichend anzusehen sind.
- Trennung von Abgeordnetenmandat und Regierung: Es ist eine der einfachen Maßnahmen, dass gewählte Abgeordnete, sollten sie in eine Regierung berufen werden, ihr Abgeordnetenmandat aufgeben. Ein Listenkandidat der Partei kann dafür nachrücken. Im Falle, dass ein mit der Erststimme direkt gewählter Abgeordneter in die Regierung berufen wird, sollte gegebenenfalls der nächste Listenkandidat aus seinem Bundesland nachrücken.
- Die Trennung von Parteifunktion und Regierung: Man kann darüber nachdenken, die gesetzliche Trennung zwischen Parteiamt und Bundestags- oder Landtagsmandat zu fordern. Auch als Lehre aus der CAUSA Thüringen, 2020, wäre dies eine wichtige Maßnahme, um die Trennung von Parteipolitik und Regierungsamt formal weitgehend zu erreichen. Äußerungen und Handlungen als Parteimitglied und parteistrategische Erklärungen müssen Regierungsangehörigen untersagt sein, im deutlichen Gegensatz zu der fragwürdigen Erklärung der Verfassungsrichterin Wallrabenstein. Eine solche Trennungslinie zwischen „Amt und Kabinett“ ist als wichtiger anzusehen, als Parteiamt und Parlamentsmandat zu trennen.
- Soll die BRD rechtsstaatliche Strukturen erhalten, ist es unumgänglich, Schritte zu gehen, um die Unabhängigkeit der Justiz herbeizuführen. Vorschläge dazu gibt es, so vom ‚Ausschuss für Recht und Menschenrechte‘ des Europarates, wie zuvor genannt. So wäre beispielsweise die Schaffung eines eigenen Justizrates als Selbstverwaltungsorgan und von der Regierung unabhängige obere Aufsicht über das Gerichtswesen eine Möglichkeit, um die Justiz, in erster Linie die Rechtsprechung, vom Justizministerium zu entkoppeln. (Vorwürfe politisch motivierter Missbräuche des Strafrechtssystems in den Mitgliedstaaten des Europarats: https://assembly.coe.int/nw/xml/xref/xref-xml2html-en.asp?fileid=12276&lang=en) Eine nötige Grundgesetzänderung hierfür sollte keine allzu hohe Hürde sein, nachdem in den vergangenen Jahren zahlreiche und oft weitreichende Grundgesetzänderungen erfolgten.
- Ebenso muss das Wahlverfahren und die Kandidatenauswahl für die Bundesverfassungsrichter tiefgreifend reformiert werden. So sollten Bewerbungen zu Kandidaturen für das BVerfG oder Vorschläge von parlamentsfremden Gruppen ermöglicht werden, und das Vorschlagsrecht von Parteien beziehungsweise Parlamentsfraktionen muss entweder stark begrenz oder nach Möglichkeit gänzlich aufgehoben werden. Die Wahl neuer Verfassungsrichter sollte, sofern überhaupt, allenfalls zum Teil und vorläufig weiterhin durch den Bundestag und Bundesrat erfolgen. Richter allgemein müssen durch den genannten, zu schaffenden Justizrat beziehungsweise durch ein eigenes Gremium bestimmt werden, unabhängig von Parlament und Parteieneinfluss; das kann auch für die Verfassungsrichter gelten.
- Die Abschaffung der Parlamentarischen Staatssekretäre sollte eine der ersten Maßnahmen sein, mit welcher eine Trennung zwischen den Staatsgewalten wirksam vorangebracht werden kann. Sollten Minister persönliche Staatssekretäre als direkte Mitarbeiter und Vertraute benötigen, kann gegebenenfalls parlamentarisch darüber befunden werden, ob sie für ihre Amtszeit externe und parlamentsneutrale (möglichst sogar parteiungebundene) persönliche vertraute Fachleute im Ministerium für die Dauer der Legislaturperiode beschäftigen können.
- Die Parteienfinanzierung durch staatliche Mittel und Großspenden ist ein weiteres Thema. Die finanzielle Selbstbedienung, die einflussreiche Parteien im jetzigen System vorfinden, ist ein untragbarer Zustand. So sollte die Finanzierung auf ein geringes Maß gesetzlich begrenzt oder gänzlich beendet werden. Die Transparenz bezüglich Parteikapital und Spendeneingänge muss vergrößert werden. Vor allem über Unternehmensbeteiligungen und unternehmerische Einkünfte von Parteien ist öffentlich in Jahresberichten Rechenschaft abzulegen.
- Ein schwerer Fall und im Ganzen womöglich unzureichend reformierbar ist der Verfassungsschutz (BfV und LfV) beziehungsweise das Netzwerk von Bundes- und Länderverfassungsschutzämtern. Vorläufig sollte zumindest das Wahlverfahren der Verfassungsschutzpräsidenten geändert werden. Mittelfristig muss der VS insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden.
Gewohntes fällt nicht auf, so bemerken offenkundig sehr viele Betroffene oder Verantwortliche nicht, welche eklatante Schieflage bezüglich rechtsstaatlicher Grundsätze in Deutschland aber auch einigen anderen westlichen Ländern herrscht – oder man will es nicht sehen. Auch Journalisten scheint ein Bewusstsein für rechtsstaatliche Grundlagen abhandengekommen zu sein, wobei eine mangelhafte Allgemeinbildung, unzureichende politische Bildung sowie ideologische Blendung von Bedeutung sein können.
Alleine der politische Wille für solche erste und entscheidende Schritte zur Änderung muss vorhanden sein. Darin ist wahrscheinlich das größte Problem auszumachen, denn eine große Anzahl an Personen mit Einfluss und oft hochdotierten Posten haben sich in einem System eingerichtet und werden dieses nicht bereitwillig umbauen.
Was die Schwierigkeiten und die Mängel des Staatsaufbaus und der alltäglichen politischen Praxis in der BRD (aber auch in anderen westlichen Staaten) betrifft, werden hier einige wesentliche Punkte nur angerissen und nicht weit genug ausgeführt. Sinn dieser Betrachtung ist es vorrangig, zunächst eine Sensibilisierung für die Fragen der rechtsstaatlichen Prinzipien zu erreichen. Zu einigen erwähnten Aspekten ist selbstverständlich eine tiefergehende Analyse vonnöten, um Zusammenhänge und Auswirkungen herauszuarbeiten. Diese Aufgabe kann ein Blog-Beitrag nicht erfüllen.
Der Fokus muss immer auf den Rechtsstaat und die Teilung der drei klassischen Staatsgewalten liegen.
Montesquieu wird missachtet – es lebe Montesquieu!
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weitere Quellen:
Die neue Oppositionspartei Die BASIS („Basisdemokratische Partei Deutschland“) hat einen Beitrag zur Gewaltenteilung in Deutschland veröffentlicht: Die Gewaltenteilung – Schutzschild für Demokratie und Rechtsstaat? – dieBasis | Basisdemokratische Partei Deutschland (diebasis-partei.de)
https://www.gewaltenteilung.de/gewaltenteilung-in-deutschland-die-steckengebliebene-reform/
https://www.wissen.de/bildwb/charles-de-montesquieu-vater-der-modernen-verfassung
https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/politikwirtschaft/artikel/charles-louis-de-secondat-baron-de-la-brede-et-de
https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/planet-wissen-wdr/video-friedrich-der-grosse-und-voltaire-100.amp
https://www.gewaltenteilung.de/staatsanwaltschaft-und-gewaltenteilung/
https://www.tagesschau.de/inland/bundesverfassungsgericht-195.html
https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Organisation/organisation_node.html
https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-890468 (Staatssekretäre)
https://www.juraforum.de/lexikon/gewaltenteilung-horizontal-vertikal
https://www.dadalos.org/deutsch/Demokratie/Demokratie/Grundkurs3/Gewaltenteilung/gewaltenteilung.htm
https://www.bpb.de/themen/politisches-system/24-deutschland/40460/gewaltenverschraenkung/
https://www.morgenpost.de/politik/article237745281/justiz-unabhaengigkeit-richter-deutschland.html
https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/richterbund-weist-kritik-des-kanzleramtsministers-an-urteilen-zu-corona-massnahmen-zurueck-a3230384.html
http://www.cleanstate.de/Behaupteter%20politisch%20motivierter%20Missbrauch%20des%20Strafrechtssystems%20in%20Mitgliedstaaten%20des%20Europarats.html
https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/prof/OEF004/Aktuelles_Semester_-_Guenzel/Erasmus.Staatsorga/StOrg_Rechtsstaatsprinzip.WS.12.13.Internet.pdf
(Johanna Eidenberger: Montesquieu und die Gewaltenteilung; Seminararbeit, Johannes Kepler Universität Linz, Mai 2002 https://www.ph-online.ac.at/ph-ooe/voe_main2.getVollText?pDocumentNr=45850&pCurrPk=4207)
„Ernennung, Amtszeit und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten“. Zur Rechtslage in Deutschland hinsichtlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Aktenzeichen: WD 7 – 3000 – 043/22; Abschluss der Arbeit: 31.05.2022, Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Bau und Stadtentwicklung https://www.bundestag.de/resource/blob/902980/fa44b4a2bd35820f5a087513c2bc7207/WD-7-043-22-pdf-data.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Regierungskrise_in_Th%C3%BCringen_2020
https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/urteil-afd-klage-merkel-bundesverfassungsgericht-100.html
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/verfassungsschutz-merkel-soll-kritiker-als-maassen-nachfolger-verhindert-haben-15917477.html
https://www.rnd.de/politik/haldenwang-haette-nicht-praesident-werden-sollen-2Z5CB5IRGDPNE7OWO2HCADCJ5M.html
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