Vorbemerkung zum Höhlengleichnis

Das Höhlengleichnis ist eines der bedeutendsten und bekanntesten philosophischen Gleichnisse. Es wurde ersonnen von dem griechische Philosophen Platon (ca. 428 bis ca. 348 v. Chr.). Das Höhlengleichnis wird als Ergänzung zu Platons Liniengleichnis und dem Sonnengleichnis erachtet, die alle in Platons umfangreichen Gesamtwerk „Politeia“ enthalten sind. Das Höhlengleichnis folgt darin den anderen beiden Gleichnissen, auf die es aufbaut.

Das Höhlengleichnis steht jedoch auch für sich alleine verständlich und verdeutlicht den schwierigen und schmerzhaften Weg von der Unwissenheit hin zur Erkenntnis. Darüber hinaus veranschaulicht es die Schwierigkeiten und Gefahren, die einem Menschen drohen, wenn er anderen, die sich noch in der finsteren Höhle der Unwissenheit befinden, sein neues Wissen und Erkennen von Wirklichkeit näherbringen will und sie aus den Fesseln der Täuschung und der Höhle der Trugbilder zu befreien beabsichtigt.

Es wird darauf hingelenkt, dass jedoch die Plicht und eine verantwortungsvolle Aufgabe gegenüber seinen Mitmenschen besteht, die anderen in der Höhle des Unwissens aufzuklären.
Meistens wird das Höhlengleichnis interpretiert als bildhafte Erklärung, welche die Wichtigkeit und den Sinn von Bildung und der philosophischen Erkenntnis schildert sowie die schmerzhaften Anstrengungen auf diesem Wege. Das Gleichnis steht in „Politeia“ eingebettet , was die älteste bekannte Staatsphilosophie und politische Utopie Europas ist, ergänzt durch Platons Ideenlehre. Daher kann die Deutung auch auf anderen Bezug gerichtet werden: auf gesellschaftliche, politische Zusammenhänge, auf Machtausübung und Herrschaft und das Handeln von Menschen in einem Gemeinwesen.

Ein beträchtlicher Teil des Höhlengleichnisses, nach der eigentlichen Gleichnisschilderung, befasst sich mit Regierung und staatsphilosophischen Fragen. Da dieser Teil am Ende nur bedingt Bezug zum eigentlichen Gleichnis besitzen und sehr umfassend ausfällt, werden diese Überlegungen hier bis auf wenige Schlüsselstellen weitgehend ausgelassen.
In Platons Werk „Politeia“ nehmen das Gute und die Wahrheit einen hohen Stellenwert ein, wobei Wissen und Erkenntnis ebenfalls dem Guten zugeordnet werden und dem Licht der Sonne gleichgesetzt sind. Dies kommt im Höhlengleichnis ebenfalls zur Geltung.

Wie es unter griechischen Philosophen des Altertums üblich war, hat Platon seine Erklärungen und Lehre mittels fiktiver Gespräche oder Dispute zwischen bekannten Personen vermittelt. Daraus ergibt sich eine für uns heute fremdartige Darstellung von einer Mischung aus Lehre, Drama und Geschichtenerzählung. Ähnliche Stilmittel, um Wissen, Tugenden oder andere Lehren zu vermitteln, kennen wir aus den alten europäischen Märchen oder Mythen und Sagen. Hier werden über Handlungen und Gespräche – über Analogien und Allegorien – Werte und Lehren vermittelt.
Die fiktive Hauptrolle trägt in der gesamten Politeia Platons verehrter Lehrer Sokrates. Er stellt die schillernde Hauptfigur dar. Das Höhlengleichnis verfasste Platon als einen ausführlichen und ausgeschmückten Dialog zwischen seinem eigenen Bruder Glaukon und Sokrates.

Der Verständlichkeit und der Länge wegen wird hier das im Originalen sehr weitschweifig erzählte Gleichnis in etwas vereinfachter und gekürzter Form dargestellt und die Dialogform zurückgenommen, wie es heute üblich ist. So erfasst man auch ohne Umwege die Erklärung mit den enthaltenen Aussagen. Vor allem lässt es sich so wesentlich sicherer in verschiedene Sprachen übersetzen als es aus der vorliegenden alten deutschen Version möglich wäre.

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Das Höhlengleichnis

„Vergleiche die menschliche Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung mit folgendem Zustande.

Stelle dir Menschen vor wie in einer unterirdischen höhlenartigen Wohnung, die einen Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser Höhle seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so dass sie sitzend auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne zu sehen vermögen, an die Wand gegenüber dem Eingange. Den Kopf herumzudrehen, ist der Fessel wegen nicht möglich.

Licht haben sie von einem Feuer, welches von Ferne in Richtung Ausgang, oberhalb hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht oben her ein Weg. Längs dieses Weges steht im Rücken der Gefangenen eine Mauer gebaut, wie die Wand, welche die Puppenspieler vor den Zuschauern stellen, über welche herüber sie ihre Puppen-Kunststücke zeigen.

Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Dinge tragen, die über die Mauer herüber ragen, Gefäße, Bildsäulen und allerlei andere steinerne und hölzerne Dinge. Einige reden dabei, andere schweigen.

Wie sollten die so gefangenen Menschen von sich selbst und anderem etwas zu sehen bekommen als nur die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten?!
Wenn sie nun miteinander redeten, verständigten sie sich über das Gesehene und um das zu benennen, was sie sähen?
Und wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, die Schatten an der Wand redeten.
Keines Falles also können diese so gefangenen Menschen irgendetwas anderes für das Wahre halten, als die Schatten an der Wand.
Wenn nun einer dieser Gefangenen von seinen Fesseln befreit würde und sogleich auch gezwungen würde aufzustehen, sich umzuwenden, zu gehen und aus dem Dunkel gegen das Licht zu schauen, und indem er das täte verspürte er immer Schmerzen durch das blendende Licht. Und wegen des flimmernden Glanzes sei er außerstande, jene Dinge deutlich zu erkennen, wovon er vorher lediglich die Schatten sah.

Was würde er wahrscheinlich sagen, wenn ihm einer versicherte, bislang habe er im Leben nur Unwirkliches gesehen, jetzt aber sei er dem Seienden und Wirklichen näher und sähe richtig? Und wenn er nun die vorübergetragenen Dinge sähe, wäre dieser Mensch nicht ganz verwirrt und müsste glauben, was er zuvor in seinem Leben sah, sei womöglich doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde?
Und wenn man diesen Menschen gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen. Und er hätte den Wunsch zu fliehen und zurückzukehren und anzusehen, was er gewohnt und im Stande ist zu sehen.

Und wenn ihn nun einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen spüren und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das blendende Licht käme, würde er zunächst nichts sehen können von den Dingen um ihn.
Gewöhnung also hätte er nötig, um dies hier draußen zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach anderes und die Menschen. Und ebenso betrachtete er, was am Himmel ist.

Und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tage in die Sonne und in ihr ungewohntes Licht. Zuletzt aber würde er vermutlich auch im Stande sein, die Sonne selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen.
Und dann wird er herausfinden, dass die Sonne die Zeiten und Jahre schafft und alles andere und wie groß ihre Bedeutung ist.
Und wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen geringen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, würde er sich glücklich schätzen in seiner jetzigen Lage?
Und wenn sie dort unter sich Ehre und Lob für denjenigen hatten, der sich am besten die die vorüberziehenden Schatten an der Wand und ihre Einzelheiten merken kann, würde es ihn hier draußen danach noch verlangen, unter diesen zu weilen und Schattenbildnisse zu bestaunen?
Oder wird ihm das Homerische begegnen und er wollte viel lieber draußen das Feld als Tagelöhner bestellen und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder dort unten zu leben, unter solchen Vorstellungen?

Auch wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf seinen früheren Schemel setzte, würden ihm die Augen nicht ganz voller Dunkelheit sein und sein Augenlicht schwach, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen waren, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen. Sie würden ihn verhöhnen, wenn er von den Dingen und vom Licht der Sonne erzählt, es lohne nicht, dass man versuche hinaufzukommen und man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, versuchen umzubringen, sofern man ihn fassen könnte.“

Ausschnitte der Nachbetrachtung im Gleichnis – Sokrates‘ Erklärungen an Glaukon:

„Das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setze gleich mit dem Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis. Nur mit Mühe wird dir möglich, die Idee des Guten zu erblicken. Wenn man sie aber erblickt hat, sieht man die Erkenntnis als die Ursache alles Richtigen und Schönen.
Wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentliche Angelegenheiten, muss das Licht und die Sonne sehen, die als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringt.
Hat jemand Vernunft, so bedenkt er, dass durch zweierlei die Wahrnehmung gestört sein kann: wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht.“
[…]
„Und ist es nicht auch natürlich und nach dem bisher Gesagten notwendig, dass weder die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden, noch die, welche man sich immerfort mit den Wissenschaften beschäftigen lässt?
Und den trefflichsten Naturen unter unseren Bewohnern in der Stadt obliegt es, nach jener Kenntnis zu suchen, welche wir im vorigen als die größte aufstellten, nämlich das Gute zu sehen und die Reise aufwärts dahin anzutreten. Aber wenn sie dort oben ausreichend geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, dort zu bleiben und nicht wieder zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihrem Schicksal. Wollen wir ihnen Unrecht zufügen, und Schuld daran tragen, dass sie schlechter leben, obschon sie es besser könnten?“
[…]
„Ihr müsst also nun wieder herabsteigen zu der Wohnung der Übrigen und euch mit ihnen an die Dunkelheit wieder gewöhnen. So werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen, und jedes Schattenbild erkennen was es ist und wovon, weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt. Und so wird uns und euch der Staat wachend verwaltet werden und nicht träumend, wie jetzt die meisten von solchen verwaltet werden, welche Schattengefecht miteinander treiben und sich entzweien um die Obergewalt, als ob sie ein gar großes Gut wäre.
Das Wahre daran ist aber dieses: der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten verwaltet werden, der aber entgegengesetzte Regenten bekommen hat, auch entgegengesetzt.“
[…]
„Wenn du denen, welche regieren sollen, eine Lebensweise aufzeigst, welche besser ist als das Regieren, dann kannst du es dahin bringen, dass der Staat wohl verwaltet werde. Denn in einem solchen allein werden die wahrhaft Reichen regieren, die nicht reich an Golde sind, sondern woran der Glückselige reich sein soll: an tüchtigem und vernunftmäßigem Leben.

Wenn aber Hungerleider und Arme an die öffentlichen Angelegenheiten gehen, in der Meinung von dort her Gutes an sich reißen zu müssen, so geht das nicht. Denn wird die Verwaltung etwas, worum man sich reißt und schlägt, so muss ein solcher einheimischer und innerer Krieg die Kriegführenden selbst und den übrigen Staat verderben.“